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Wednesday, January 2, 2013

" Und selbst gehen!" - Nerven Washington liegt nackt


Der Taxifahrer kommt aus New Jersey, hat den gleichen Vornamen wie Finanzminister Timothy Geithner und schon deswegen wenig Verständnis für die amerikanische Rekordverschuldung. "Wenn ich mit meinem Geld nicht auskomme, kann ich nicht einfach mehr von Ihnen verlangen", erklärt der Endfünfziger dem Kunden im Fond seines Ford. "Ich muss dann sparen. Aber was macht Washington? Die Steuern erhöhen, um dem 'fiscal cliff' zu entkommen!"
Repräsentativ für die Stimmung in der Bevölkerung zum Umgang mit der Finanzklippe, dem meist zitierten und meist gehassten Begriff der vergangenen sechs Wochen, ist die Ansicht von Taxifahrer Timothy nicht. Dass der Kongress am Neujahrsabend gegen die Mehrheit der Republikaner höhere Steuern beschloss und Kürzungen im Haushalt zunächst um zwei Monate vertagte, entsprach angesichts der verhärteten Parteifronten der Erwartung seiner Mitbürger.
Wäre der Kompromiss zur Umsteuerung der Finanzklippe nicht zustande gekommen, hätten nach einer Umfrage von "Washington Post" und Pew-Center 53 Prozent die zögerlichen Republikaner dafür verantwortlich gemacht. Nur 27 Prozent wollten Barack Obama die Schuld zuschreiben.

Nicht nur Besserverdiener spüren Kompromiss

Trotzdem stimmten am Neujahrsabend nur 85 republikanische Abgeordnete für den mühsam ausgehandelten Gesetzentwurf, aber 151 dagegen. Die Demokraten votierten mit 172 zu 16 Stimmen für die Vorlage. Insgesamt fand das Gesetz eine Mehrheit von 257 zu 167 Stimmen. Der Senat hatte es in der Silvesternacht zwei Stunden vor dem Jahreswechsel mit 89 zu 8 Stimmen angenommen.
Die Folgen des Kompromisses werden keineswegs nur Besserverdiener zu spüren bekommen. Die Steuern auf Einkommen oberhalb von 400.000 Dollar für Einzelpersonen und 450.000 Dollar für Haushalte steigen von 35 auf 39,6 Prozent. Aber weil auch die Nachlässe für die Lohnsteuer auf alle Einkommen bis zu 113.000 Dollar nicht verlängert wurden, müssen auch Bezieher kleinerer Gehälter und der Mittelstand zwischen 20 und fast 200 Dollar monatlich zusätzlich ans Finanzamt abführen.

Keiner will das Wort "fiscal cliff" mehr hören

Die Fiskalklippe bestimmte über Wochen die Schlagzeilen. Der jeweils neuste Stand wurde als "breaking news" in immer kürzeren Abständen auf allen Nachrichtensendern vermeldet. Die Superior State University in Sault Ste. Marie in Michigan setzte den Begriff prompt an die Spitze ihrer 38. Jahresliste der Wörter, die aus der englischen Sprache verbannt werden sollten "wegen Missbrauchs, Überdosierung oder grundsätzlicher Nutzlosigkeit".
Dass "fiscal cliff" noch vor anderen inflationär vermeldeten Modebegriffen wie "kick the can down the road" (auf die lange Bank schieben) oder "double down" (bekräftigen oder verstärken) landete, begrüßt Christopher Loiselle auf der Homepage der Universität: "Man kann die Nachrichten nicht einschalten, ohne das zu hören. Ich bin gleichermaßen besorgt über den Fluss der Schulden und den Berg der Verzweiflung."

Ein billiger Kompromiss

Immerhin dürften Verschwörungstheoretiker, die in jedem politischen Kräftemessen eine Inszenierung sehen, mit der den Wählern die vermeintliche Härte des Einsatzes für ihre Interessen suggeriert werden soll, dieser Tage vom Glauben abgefallen sein. Denn entgegen den Prophezeiungen in vielen Blogs und Leserkommentaren gab es eben am Ende keine tatsächliche Einigung, sondern einen billigen Kompromiss zum Nachteil aller Beteiligten.
Obama blieb weit zurück hinter seiner Ankündigung aus dem Wahlkampf, alle Besserverdiener oberhalb von 250.000 Dollar stärker zur Kasse zu bitten, aber die Bezieher niedrigerer Gehälter zu schonen. Die Republikaner scheiterten mit ihrer Forderung, auf Steuererhöhungen gänzlich zu verzichten oder aber allenfalls bei Einkommensmillionären beginnen zu lassen und in jedem Fall Budgetkürzungen zu beschließen.
Und das amerikanische Volk hat Ultimaten gesehen, die überschritten wurden. Und es erwartet eine zähe Fortsetzung des Duells in den kommenden Wochen, wenn über die Erhöhung der erneut erreichten Schuldenobergrenze von gegenwärtig 16,4 Billionen Dollar verhandelt werden muss.

Die Nerven liegen blank

Wie blank die Nerven in den entscheidenden Nächten im politischen Washington lagen, zeigt der verbale Kleinkrieg zwischen John Boehner, dem republikanischen Sprecher des Repräsentantenhauses, und Harry Reid, dem demokratischen Mehrheitsführer im Senat. Reid beschuldigte Boehner am Freitag in einer Pressekonferenz, er übe eine "Diktatur" im Haus aus, und es sei ihm wichtiger, "sein Zepter" als Sprecher zu sichern, als einen Kompromiss vorzubereiten.
Kurz danach begegneten sich die beiden Männer, von denen bekannt ist, dass sie sich in herzlicher Abneigung verbunden sind, in der Lobby des Weißen Hauses. "Go fuck yourself", sagte Boehner nach Augenzeugenberichten mit international verständlicher Deutlichkeit, während er auf Reid zeigte.
Den verlangte es aber dennoch nach einer Bestätigung des unerhörten Gehörten. "Wovon redest du?", fragte er überrascht. Und der Sprecher des Hauses, nach Präsident und Vizepräsident hierarchisch die Nummer drei in Washington, wiederholte die drei Wörter getreulich.

Boehner fehlte Rückhalt

Dass Boehner sich durchaus um einen Kompromiss bemüht hatte, ist bekannt. Er war vor Weihnachten in den Vier-Augen-Verhandlungen mit Obama recht weit gekommen. Aber seine eigenen Abgeordneten zeigten ihm die kalte Schulter.
Dass Boehner den Weg frei machte für die offene Abstimmung, stellt seine Position als Sprecher des Repräsentantenhauses im nächsten Kongress in Frage, der sich am Freitag auf der Grundlage der Wahlresultate vom 6. November konstituiert. Denn Eric Cantor, der Fraktionschef, stimmte mit der Mehrheit der Abgeordneten gegen den Gesetzentwurf. Boehner und Paul Ryan, im Wahlkampf der "running mate" von Präsidentschaftskandidat Mitt Romney, votierten mit dem Minderheiten-Drittel der Fraktion mit Ja.
Cantor und die anderen mögen bei ihrer Verweigerung ihr schriftliches Versprechen gegenüber dem einflussreichen Tea-Party-Aktivisten Grover Norquist im Sinn gehabt haben, nie und unter keinen Umständen für Steuererhöhungen zu stimmen. Norquist selbst zeigte allerdings mehr Flexibilität und mogelte sich in letzter Minute auf die Seite der Sieger.
"Der Kongress schickt sich an, die meisten der vorübergehenden Steuerkürzungen dauerhaft zu beschließen, gegen die Demokraten 2001 und 2003 stimmten. Dauerhaft schlägt vorübergehend", twitterte der Vorsitzende der Organisation "Amerikaner für Steuerreform". Und in einem anderen Tweet bescheinigte er: "Jeder R(epublikaner), der für das Senatsgesetz stimmt, kürzt Steuern und hält sich an sein Versprechen."

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