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Thursday, January 17, 2013

Größter anzunehmender Vorfall Gabriel Altfalke

Bulldozer? Haudrauf? Weit gefehlt. SPD-Chef Sigmar Gabriel ist verletzlich und liebesbedürftig. Sollte Kanzlerkandidat Peer Steinbrück die Nerven verlieren, hätte er eine bittere Pflicht zu
Am Abend der niedersächsischen Landtagswahl tritt Sigmar Gabriel vor die Kameras. Es ist 18.30 Uhr, eine halbe Stunde zuvor wurden die Wahllokale geschlossen. Gabriel wirkt deprimiert, und er hat in der Tat keinen Grund zum Feiern. Von einem "sehr, sehr schwierigen Ergebnis" für die SPD spricht er, und zum Trost applaudieren ihm die eigenen Anhänger frenetisch. "Liebe Leute", ruft er ihnen zu und kündigt kampfeslustig und ein wenig trotzig ein "Rückspiel" an.

Zehn Jahre liegt diese Szene zurück, fast auf den Tag genau. Mit der Landtagswahl am 2. Februar 2003 endete Sigmar Gabriels Karriere als Ministerpräsident von Niedersachsen. Zweieinhalb Jahre später war er wieder da, diesmal in Berlin. Zum Bundesumweltminister wurde er berufen, es handelte sich um eine politisch-persönliche Reha-Maßnahme, Franz Müntefering hieß sein Therapeut.

Weitere vier Jahre darauf, nach dem 23-Prozent-Debakel der SPD, hob Gabriel forsch den Finger, als es darum ging, wer künftig die Partei führen sollte. Gut drei Jahre ist Gabriel seitdem Parteivorsitzender, und in dieser Eigenschaft muss er am Sonntagabend vor die Fernsehkameras treten. Einiges spricht dafür, dass Sigmar Gabriel abermals ein sehr schwieriges Ergebnis und eine noch kompliziertere Lage seiner Partei erklären muss.


Auch Gabriels Schicksal steht auf dem Spiel

Natürlich, in Niedersachsen steht Stephan Weil zur Wahl, der solide SPD-Spitzenkandidat, der gewiss ein guter Ministerpräsident wäre. Natürlich, in Niedersachsen geht es auch um die Zukunft von Peer Steinbrück, schon allein weil es sich um die erste Wahl nach seiner Nominierung zum SPD-Kanzlerkandidaten handelt, vor allem aber weil Steinbrück seiner Partei bisher erstens Probleme und zweitens Peinlichkeiten beschert hat.

Doch natürlich steht in Niedersachsen auch Sigmar Gabriels Schicksal auf dem Spiel. Eine Schlappe von SPD und Grünen setzt ihn extrem unter Druck, er müsste umgehend auf eine – parteiintern erwartete – Niederlage reagieren. Konsequenzen aus dem Steinbrück-Malus hätte er zu ziehen. Sollte Stephan Weil keine Aussicht auf das Ministerpräsidentenamt haben, erwartet die Partei spätestens am Montag ein Signal des Willy-Brandt-Hauses. Gabriel ist gefragt.


Er demonstriert, dass er es besser kann


Bei den Falken, und nicht etwa bei den Jusos, wurde Sigmar Gabriel, Jahrgang 1959, politisch geprägt. Die Falken waren pragmatischer als die Jusos. Gabriel organisierte Zeltlager und Rockkonzerte, Theorie-Debatten über Papiere in unverständlicher Sprache waren ihm zuwider. Die Falken, die sich bis heute Sozialistische Jugend Deutschlands nennen, standen stets in engem Austausch mit der SPD.

Gab es Unmut über die Falken, berichtete Gabriel vor vielen Jahren aus seiner Jugend in den 1970er-Jahren, dann kamen Herbert Wehner oder Hans-Jürgen Wischnewski vorbei. Lief alles prima, suchten Heidi Wieczorek-Zeul oder Rudolf Scharping die Falken auf. Gabriel und seine Mitstreiter verstanden das Signal. Es lautete: Die Sache ist wohl nicht so ernst.

Sigmar Gabriel versteht es also, Zeichen zu deuten und Zeichen zu setzen. Wittert er Ärger oder eine Wahlniederlage oder beides, dann ist Gabriel omnipräsent, dann bestätigt er all jene, die ihn darauf reduzieren, er sei eben "umtriebig". Hat Gabriel den Eindruck, etwas gerate grundsätzlich schief, dann läuft er hochtourig, dann ist niemand vor ihm sicher, schon gar kein Mikrofon und keine Kamera.

In den vergangenen Tagen warf Gabriel der Kanzlerin "Lohndumping" vor, stellte hohe Hürden für eine Zypern-Hilfe auf, bezichtigte den Bundesverkehrsminister mit Blick auf den Berliner Großflughafen der Täuschung und bot der CDU einen "nationalen Rentenkonsens" an, natürlich ohne die CSU und die FDP.

Nein, mit diesen Vorstößen dreht Gabriel nicht die politische Stimmungslage, und die Auswirkungen auf das Ergebnis der SPD am Sonntag werden sich in Grenzen halten. Gabriel weiß das, aber er beweist damit seinen Leuten und sich selbst, dass er es versteht, Themen zu setzen. Er demonstriert, dass er es einfach besser kann.


Lage der SPD ist prekär


Besser etwa als der irrlichternde Peer Steinbrück, der am Donnerstag – die Verzweiflung scheint groß – in der "Bild"-Zeitung gegen den "Wucher" bei Dispo-Zinsen mobil machte. Dispo-Zinsen? Da war doch was. "Wir brauchen endlich ein Gesetz mit einer Obergrenze für Dispo-Zinsen", verlangte Gabriel vor einem halben Jahr und polterte über "Abzocke".

Das Parlament machte Sommerpause, und der SPD-Chef litt darunter, dass seine Partei wochenlang vor sich hin dämmerte. Es war eine Phase, in der Gabriel dieses und jenes forderte, auf dass die Partei überhaupt stattfand.

Die Lage der SPD ist nach dem fast vier Monate andauernden Fehlstart Peer Steinbrücks prekär. "Beschissen" sei die Situation, heißt es in der Partei. Nichts gelinge derzeit. Wie einst bei den Falken gäbe es in dieser verfahrenen Lage wohl Besuch von Herbert Wehner, nicht von Heidemarie Wieczorek-Zeul. Bei der SPD muss in solchen Situationen der Vorsitzende ran, ist der Vorsitzende überzeugt.

Kanzlerkandidat Steinbrück wird Gabriel dabei als nur bedingt hilfreich empfinden, und er könnte sich darüber austauschen mit dem ehemaligen Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier. Als dessen Wahlkampf 2009 partout nicht in die Gänge kam, eröffnete Gabriel, damals Umweltminister, einen eigenen Wahlkampf. Er suchte jede rostige Schraube in deutschen Atomkraftwerken, natürlich wurde er fündig. Die Partei dankte ihm den Privat-Bundestagswahlkampf später mit ihrem Vorsitz.


Ein "ausgezeichneter Kandidat" – auf Nachfrage


Das Verhältnis zwischen Gabriel und Steinbrück ist, vorsichtig formuliert, ausbaufähig. Der Vorsitzende ist entsetzt über die diversen Fehlgriffe des Kandidaten, und so sehr er ihn öffentlich verteidigt, so ist sein Groll spürbar. Mehrfach hat Gabriel ihn intern gedrängt, Positionen zu überdenken. So brachte der SPD-Chef Kandidat Steinbrück dazu, seine "Nebeneinkünfte" zu veröffentlichen. Steinbrück wiederum misstraut Gabriel.

Sigmar Gabriel gilt, vielleicht wegen seiner robusten Statur, als Bulldozer. Er gibt immer wieder den Haudrauf. Dabei ist er verletzlich, emotional, liebesbedürftig, So sehr er zum verbalen Holzhacken neigt, so sensibel formuliert er zuweilen.

Am Montag vor einer Woche, bei seinem Auftritt zum Jahresauftakt, gelang Gabriel das Kunststück, Steinbrück zu rüffeln – ohne ihn zu rüffeln. Er sprach fast eine Viertelstunde über 150 Jahre SPD, den Lebensalltag der Menschen und immer wieder von "Werten und Prinzipien". Den Namen Steinbrück ließ er nicht einmal fallen. Auf Nachfrage nannte Gabriel ihn dann einen "ausgezeichneten Kandidaten". Natürlich.


Für Gabriel herrscht eigentlich immer Wahlkampf


In diesen Tagen tourt Gabriel unermüdlich durch Niedersachsen. Am Donnerstag war er in Bensersiel, Roffhausen, Wilhelmshaven, Delmenhorst. Er macht Wahlkampf, das kann er, attestieren ihm selbst seine Gegner. Dabei muss man wissen, dass für Gabriel eigentlich immer Wahlkampf herrscht.

Am Sonntag wird er mit der engeren Parteiführung über die Prognosen aus Hannover beraten. Sollten SPD und Grüne eine parlamentarische Mehrheit erhalten, kann Gabriel – wie Steinbrück – erst einmal durchatmen. Alles andere setzt die SPD unter Zugzwang, die Fortsetzung der schwarz-gelben Koalition wäre nach allerlei gewonnen Wahlen in den Ländern der größte anzunehmende Unfall. Für Steinbrück nach dreieinhalb Monaten als Kandidat, für Gabriel nach dreieinhalb Jahren im Amt. Die SPD zöge mit Gegenwind in den Bundestagswahlkampf.

Die Ruhe und Disziplin, die derzeit in der SPD herrscht, würde Sonntag enden. Ihr Vorsitzender wird dann agieren, nicht reagieren wollen. Sollte Steinbrück die Nerven verlieren, müsste Gabriel die Kanzlerkandidatur übernehmen. Das wäre Pflicht des Vorsitzenden in bitterer Zeit.

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