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Sunday, January 6, 2013

Deutsch Unternehmen entdecken einen Ersatz für E-Mail

Winfried Holz ist stolz auf seine Urkunde. Der Deutschlandchef des französischen IT-Dienstleisters Atos steht in einem schmucklosen Großraumbüro im Münchener Stadtteil Neuperlach. Wenige Schritte von seinem Schreibtisch entfernt hat er das Zertifikat aufgestellt.
Das Dokument bezeugt, dass die Vorstände des französischen Unternehmens ihre monatlichen Sitzungen vorbereiten, ohne auch nur eine einzige E-Mail mit Präsentationen oder Terminabsprachen zu versenden. "ZeroMail" heißt das bei Atos.
Künftig sollen noch mehr solcher Zertifikate in den Büros des IT-Dienstleisters hängen. Atos hat der E-Mail den Kampf angesagt. Noch in diesem Jahr möchte das Unternehmen die elektronische Post aus dem Unternehmensalltag weitestgehend verbannen.
Der Schritt soll ein Beitrag zur Effizienz im Unternehmen sein, beschloss der mächtige Pariser Konzernchef Thierry Breton. Holz sagt: "Arbeitszeit soll künftig mehr für die Wissenserweiterung und -kommunikation genutzt werden und weniger dazu, sich durch sinnlose Informationen zu wühlen."
Kampf gegen den E-Mail-Wahnsinn

Das Unternehmen setzt sich damit an die Spitze einer wachsenden Bewegung, die sich gegen den E-Mail-Wahnsinn stemmt. Vor 40 Jahren wurde die elektronische Post ins Leben gerufen. Damals war das eine Revolution.
Ein Instrument, um Kontinente miteinander zu verbinden. Technisch hat sich seither allerdings wenig getan, um das Instrument auch leichter handhabbar zu machen. Die E-Mail ist im Grunde ein Brief geblieben, der einfach nur elektronisch übertragen wird.
Und dieses Kommunikationsmittel droht mittlerweile viele Menschen zu überfordern. Denn die Zahl der elektronischen Briefe nimmt gigantische Ausmaße an. Unternehmen sehen sich einer wahren elektronischen Flutwelle ausgesetzt. Weltweit werden 145 Milliarden E-Mails verschickt – pro Tag. 2016 sollen es schon 192 Milliarden sein, prognostiziert der Marktforscher Radicati Group.
Berechnungen zufolge sind Angestellte von Unternehmen gut 20 Stunden in der Woche allein damit beschäftigt, E-Mails zu schreiben, sortieren, löschen und zu beantworten. Die Frage ist: Ist diese Zeit gut investiert?
"Die E-Mail-Flut ist ineffektiv"

Holz zweifelt daran. "Die E-Mail-Flut ist ineffektiv", klagt er. Der Manager erhält zwischen 150 und 200 elektronische Nachrichten am Tag. Sein Fazit: 50 Prozent der E-Mails sind unnötig, 30 Prozent für den Geschäftszweck nicht notwendig und nur 20 Prozent relevant.
Er selbst muss häufig sein Notebook mit nach Hause nehmen, um am Wochenende sein Postfach zu leeren. 4000 Mails nimmt er sich dann zuweilen vor.
Viele E-Mails werden leichtfertig weitergeleitet. Schnell werden mehrere Kollegen auf Cc gesetzt, also E-Mails zur Kenntnisnahme geschickt. In vielen Firmen ist das üblich. Doch am Ende nötigt man den Kollegen damit viel Aufmerksamkeit ab. Gern sind direkte Vorgesetzte unter den Adressaten.
"Die E-Mail wird auf diese Weise missbraucht, um Verantwortung wegzudelegieren", sagt Holz. "Nach dem Motto: Ich habe dich doch informiert." Das ist ein Vorwurf, den viele Firmenchefs äußern.
E-Mails sind Meister der Ablenkung

Thomas Jackson, Wissenschaftler an der britischen Universität in Loughborough, hat genau diese Auswirkungen auf das Arbeitsleben untersucht. Ergebnis: Mitarbeiter benötigen im Schnitt 64 Sekunden, um nach dem Lesen einer Mail wieder zurück zur Arbeit zu finden.
Das ist auch mit Schulungen im effizienten Umgang mit E-Mails kaum zu ändern, wie Jackson festgestellt hat. Zwar beherzigen Angestellte die neuen Regeln, schreiben weniger Mails an Kollegen und schauen seltener in die Postfächer.
Die Vorsätze halten allerdings nur wenige Wochen an. Jackson ist keine Ausnahme. In langweiligen Sitzungen kramt er gern sein Smartphone heraus. "Wie viele andere auch bin ich am Ende in gewisser Weise süchtig nach E-Mails", sagt er.
Es ist die Aufgabe von Julia Jeroch und Manuela Gruneberg, solche Regeln auch bei Atos durchzusetzen. Die zwei jungen Frauen wurden gemeinsam mit rund 100 anderen Mitarbeitern zu Botschafterinnen für moderne Kommunikation ernannt. Sie sollen dafür sorgen, dass Mitarbeiter laufend daran erinnert werden, die E-Mail-Flut zu verhindern. "Wir möchten vor allem eine Veränderung in den Köpfen anstoßen", sagt Gruneberg.
"Oft ist es einfach besser, zum Telefon zu greifen, statt eine E-Mail zu schreiben." In einigen Bereichen konnten sie den E-Mail-Verkehr bereits um 80 Prozent reduzieren.
Die beiden Frauen sollen langfristig den Boden dafür bereiten, dass Mitarbeiter Ende 2013 möglichst gänzlich auf E-Mails verzichten. Dann will Atos zur internen Kommunikation ein soziales Netzwerk nutzen, das ähnlich wie Facebook aussieht.
"Es gibt Mitarbeiter, die sind begeistert und möchten sofort mitmachen", sagt Jeroch. Es sei wichtig, gerade ältere Kollegen an die Hand zu nehmen und sie auf den Wechsel vorzubereiten. Denn ein soziales Netzwerk kann nur funktionieren, wenn eine kritische Masse mitmacht.
Systeme für neue Art der Kommunikation

Die Zukunft der Kommunikation bei Atos sieht tatsächlich auch optisch aus wie Facebook. Im Sommer kaufte das Unternehmen das kleine Start-up BlueKiwi, das ein solches Netzwerk für Unternehmen entwickelt hat. Das System erlaubt es Mitarbeitern, ein persönliches Profil mit einem Foto einzurichten.
Jeder hat ein persönliches Postfach für Nachrichten. Jeder kann Mitglied in festgelegten Gruppen werden und wird informiert, wenn in den Foren dieser Gruppen neue Nachrichten veröffentlich werden. Es gibt die Möglichkeit, zu chatten und eigene Ideen zur öffentlichen Diskussion zu stellen.
Unternehmen können heute aus einer ganzen Reihe von Systemen auswählen, um diese neue Art der Kommunikation einzuführen. BlueKiwi zählt unter den Anbietern eher zu den Newcomern. Marktführer ist das US-Unternehmen Jive, dessen Programm beispielsweise die Allianz Deutschland nutzt. Yammer wurde von Microsoft für einen Milliardenbetrag gekauft. Jam gehört zum Walldorfer Softwarekonzern SAP. Chatter ist das soziale Netzwerk von Salesforce, einem Unternehmen, das sich auf Cloudlösungen spezialisiert hat.
Kulturwandel durch eigenes soziales Netzwerk

Die Netzwerke kommen vor allem jungen Mitarbeitern entgegen. Sie schreiben ohnehin privat immer seltener E-Mails. Wer Informationen mit vielen Menschen teilen will, schreibt in seiner Freizeit eine Statusnachricht bei Facebook. Wer nur einen schnellen Dialog führen will, schreibt eine formlose Chat-Nachricht über einen Nachrichtendienst oder verfasst eine Kurznachricht mit WhatsApp, einem kostenlosen SMS-Dienst für Smartphones.
Für viele Unternehmen bedeutet der Einsatz eines eigenen sozialen Netzwerks einen Kulturwandel. "Mitarbeiter werden künftig in einer Holschuld stehen", sagt Holz. "Sie müssen sich informieren und nicht darauf warten, dass sie jemand anschreibt." Das erfordert Initiative im Alltag. Außerdem bleiben Informationen dauerhaft abrufbar und verschwinden nicht, wenn ein Mitarbeiter das Unternehmen verlässt.
E-Mail bald dieselbe Bedeutung wie Telefax?

Das heißt natürlich längst noch nicht, dass die E-Mail am Ende ist. "Die E-Mail ist etabliert und wir werden sie noch viele Jahre nutzen. Das Umfeld, in dem sie eingesetzt wird, wird sich jedoch stark verändern", sagt Derk Fischer, Experte der Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers für soziale Medien. Vermutlich dürften E-Mails künftig stärker in soziale Netzwerke integriert werden und dort weiterleben.
Es gibt aber auch radikalere Meinungen. "In wenigen Jahren wird die E-Mail dieselbe Bedeutung haben wie heute das Telefax", sagt Joachim Schreiner, Deutschlandchef von Salesforce. Der Wandel sei unvermeidbar. "Junge Menschen wachsen derzeit mit einer vollkommen neuen Kommunikationskultur auf", sagt Schreiner. "Mein Sohn ist 17 Jahre alt – und er hat seit drei Jahren schon kein E-Mail-Konto mehr."
Bei Atos zumindest wird die Mail auch in einem Jahr nicht vollkommen verschwinden. Denn nach wie vor wird das Unternehmen auch mit der Außenwelt kommunizieren müssen. Und hierfür braucht es auch weiterhin die klassische elektronische Nachricht.

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