Wo früher die innerdeutsche Grenze das Eichsfeld zerschnitt, soll das "Grüne Band" wachsen. Zwischen Bauern und Naturschützern ist ein erbitterter Streit um Äcker, Wiesen und Öko-Nischen ausgebrochen.
Hat es die Grenze eigentlich je gegeben? Über den Bundsenberg bei Duderstadt läuft zwar schnurstracks der Kolonnenweg durch die hügelige Landschaft, auf dem die DDR-Grenzsoldaten einst in Kübeltrabbis patrouillierten. Neben den gelochten Betonplatten sprießen links und rechts der Fahrspur Bäume und Büsche aus der Erde. Die deutsch-deutsche Narbe wächst mit Haselnusssträuchern, Eichen und Lärchen zu.
Dass hier vor einem Vierteljahrhundert noch ein Todesstreifen mit Metallgittern, Minen, Stacheldraht und Selbstschussanlagen die Gegend zerfurchte, mag man kaum glauben. Das Eichsfeld wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zerschnitten. Wenn in Thüringen ein Verwandter starb, hängten die Hessen oder Südniedersachsen Kränze in den Stacheldraht.
Heute verstellt kein Zaun mehr den Blick vom Bundsenberg. Im Tal zeigen zwei Kirchturmspitzen Duderstadt an, mit seinen restaurierten Fachwerkbauten, der mittelalterlichen Wallanlage und dem uralten Rathaus wohl eine der schönsten Städte der Republik. Das Eichsfeld liegt mitten in Deutschland, man rühmt sich hervorragender Mettwürste und seines unerschütterlichen katholischen Glaubens. Der Rest ist Ansichtssache. Denn was man vom Bundsenberg bei Duderstadt genau sieht, wenn man ins Land schaut, hängt sehr davon ab, was man mit der Gegend noch vorhat.
Die Bauern freuen sich über die kaminrote Erde, die das Wasser lange speichert. Den fruchtbaren Lössboden haben schon die Vorväter beackert. Als die Grenze das Eichsfeld durchtrennte, war Feldwirtschaft dort kaum möglich. Dann verschwand 1990 der Metallgitterzaun, kurz darauf kehrten die Trecker zurück. Das Niemandsland wurde wieder beackert.
Das Projekt tritt in Phase zwei
Doch diese Rückkehr zur landwirtschaftlichen Normalität steht jetzt zur Debatte. Im Eichsfeld ist ein erbitterter Streit um Felder, Flächen und Wiesen ausgebrochen. Naturschützer streiten für neue Öko-Nischen, Bauern für ihre angestammten Äcker.
Der Geschäftsführer des Landvolks im Kreis Göttingen, Achim Hübner, nennt es kühl einen "Kampf um die Fläche". Sein Gegenspieler Holger Keil, Geschäftsführer der naturnahen Heinz-Sielmann-Stiftung in Duderstadt, spricht von einem "handfesten Interessenkonflikt". Die Bauern seien dabei, eine "Riesenchance" für die Region zu vermasseln.
Es geht um das "Grüne Band". Auch viele Landes- und Lokalpolitiker unterstützen die Renaturierung der ehemaligen Grenze, die der Region mehr Tourismus bescheren könnte. Die Idee dazu wurde geboren, als die Mauer noch stand. Ein Jahr vor der Wende, 1988, schloss der Naturfilmer Heinz Sielmann seinen TV-Klassiker "Tiere im Schatten der Grenze" mit den Worten: "Ich kann mir kein besseres Denkmal für eine überwundene deutsch-deutsche Grenze vorstellen, als einen großen Nationalpark von der Ostsee bis zum Thüringer Wald."
Damals war Sielmanns Satz visionär. Nun ist er geübte Praxis. Das Naturschutzprojekt "Grünes Band" tritt gerade in Phase zwei. Das bedeutet: Es wird ernst. Vor allem für die Bauern. Denn worüber Keil sich freut, halten viele Landwirte glatt für eine "kalte Enteignung".
Eine bewaldete Öko-Autobahn?
Naturschützer mögen sich über stillgelegte Felder, Feuchtwiesen und frei mäandernde Flussbetten freuen. Doch Landwirte wie Karl Heinz Engelhard aus Gieboldehausen ziehen angesichts der neuen Artenvielfalt im Sumpfgebiet höchstens die Augenbrauen hoch.
"Früher war das mal Acker hier", berichtet Engelhard, seine Stimme klingt bitter. Der Bauer kann sich gut erinnern, wie hier Gräben gezogen und Dränagen gelegt worden sind, um den Boden zu entwässern. Das Grundstück neben seinen Feldern gehört jetzt dem Land Niedersachsen. Seitdem wachsen die Gräben zu, der Wasserpegel steigt. Wenn das so weitergeht, kann Engelhard seinen Acker bald vergessen.
Sein Aussiedlerhof liegt nicht weit von der Rhume, einem Fluss, der in Rhumspringe durch eine Karstquelle mit kristallklarem unterirdischem Harzwasser gespeist wird. Die sagenumwobene Rhume schlängelt sich etwa 50 Kilometer gen Westen, bis sie bei Northeim in die Leine fließt. Die Rhumeauen wurden in der Naturschutzplanung schon vor längerer Zeit dem "Grünen Band" zugeschlagen. Engelhard muss damit rechnen, dass seine Äcker und Felder in Flussnähe bald zu Feuchtwiesen werden könnten. Und er kann fast nichts dagegen tun.
Denn die Naturschützer träumen hier von einem ökologischen Refugium, das sich entlang des stillgelegten Todesstreifens mindestens in Fußballfeldbreite von der Ostsee bis zum Bayerischen Wald durch Deutschland zieht. Das "Grüne Band" wäre eine bewaldete Öko-Autobahn, wo der Luchs den Fuchs überholt, Zauneidechsen am Wegesrand ungestört ihre Eier legen, Kröten fröhlich von Hessen nach Thüringen wandern und keinem Autoreifen, sondern finalmente höchstens einem Storch begegnen.
Der Traum vom Idealzustand der Natur
Während sich zwischen Birken und Fichten die Flora vervielfältigt, setzen vom Aussterben bedrohte Vögel fröhlich ihre Nester in die Baumkronen. Im Eichsfeld ist zum Beispiel der Rote Milan wieder heimisch. Er nistet in Eichen, Buchen und Kiefern. Ein leiser Jäger. Wenn der Rotmilan die terrakottafarbene Landschaft überfliegt, erkennt man ihn "am halb gefächerten Schwanz", wie der Biologe Holger Keil erklärt.
Keil könnte stundenlang über den Roten Milan reden. Im Eichsfeld fühlt sich der Greifer wohl. Je mehr landwirtschaftliche Flächen in Brachen umgewandelt werden, desto mehr Beute findet er.
Als Heinz Sielmann in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre seine Expedition ins Tierreich der deutsch-deutschen Grenze unternahm, entdeckte er eine zum Teil vollkommen unberührte Flora und Fauna, die er sonst nur noch aus Kindertagen kannte. Die von Sielmann dokumentierte Natur am Todesstreifen kannte zudem keine Grenzen. Da wühlten sich Dachse unter den tief in die Erde eingelassenen Metallgitterzaun durch, Singvögel brüteten im Minenfeld.
Kraniche und Kormorane fraßen sich auf streng bewachten LPG-Feldern satt und flogen abends zu ihren Nestern rüber in den Westen. Diesen vermeintlich unberührten Zustand wollte Sielmann gern erhalten. Für den 2006 verstorbenen und in einer kleinen Kapelle bei Duderstadt beigesetzten Tierfilmer war das "Grüne Band" nicht nur ein ehrgeiziges Öko-Denkmal, sondern auch eine Zeitmaschine, mit der man die ganzen Landstriche in einen Idealzustand zurückversetzen könnte.
Landfrust statt Landlust
Nur – für wen ideal? "Wenn man den Naturschützern den kleinen Finger gibt, nehmen die gleich die ganze Hand!", schimpft der pensionierte Landwirt Arno Homann, der auf der anderen Rhumeseite in Elbingen bei Gieboldehausen auf dem Altenteil lebt. Sein ältester Sohn hat Vornamen und Hof geerbt, auch dessen Sohn will den Acker- und Milchbetrieb irgendwann weiterführen.
Früher war es selbstverständlich, dass die Höfe von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Heute überlegen sich die Jungen sehr gut, ob sie das Abenteuer Landwirtschaft noch wagen sollen. Auch immer weniger Eichsfelder riskieren es. Beantragten 1999 noch 1320 bäuerliche Betriebe im Landkreis Göttingen Fördergelder bei der EU, sind es heute nur noch 780. Der Bauer, früher neben dem Pfarrer, dem Arzt und dem Lehrer eine zentrale dörfliche Respektsperson, gibt auf.
Denn in der Provinz herrscht längst Landfrust statt Landlust. Wer einen Hof betreibt, ist von Vorschriften umstellt. Die Preise verderben schneller als Milch in der Sonne. Vor allem in der Kuhwirtschaft muss man heute knallhart kalkulieren.
In seiner Kindheit hat Arno Homann jr. die Rinder abends noch von den unten an der Rhume gelegenen Wiesen zurück in den Stall getrieben. Er kannte als Kind jedes Tier mit Namen: Adelia, Berta, Caroline – und so weiter. Gemächlich trotteten die Kühe die schmale Landstraße den Hügel hinauf auf den Hof; jedes Vieh kannte seine Box. Doch eine Kuh auf der Wiese kann sich Arno Homann, 49, nicht mehr leisten. Mit Kraftfutter im Stall liefert so ein Tier inzwischen einfach mehr Milch. Auch die Namen sind deshalb nicht mehr so wichtig. Man muss die Kühe ja nicht mehr rufen, sie stehen das ganze Jahr im Gehöft.
Farmer und Cowboys verteidigen ihr Glück
Wie fast überall in Deutschland verschwanden die Hausrinder deshalb im Laufe der Jahre auch im Eichsfeld sang- und klanglos aus dem Landschaftsbild – ein Kulturbruch, den man kaum ermessen kann. Vor 1000 Jahren wurden die meisten Eichsfelder Dörfer in den dunklen Wald gesetzt. Viele Ortsnamen erzählen davon, was es für eine Knochenarbeit war, Weideland aus dem dunklen Forst zu schlagen: Ecklingerode, Westerode, Mingerode, Holzerode. Gerodet wurde mit Muskelkraft oder Feuer. Jede neue Siedlung war ein Sieg des Menschen über bisweilen ausgesprochen unfreundliche Natur.
Heute läuft auf den Eichsfelder Höfen fast alles maschinell. Doch wenn sie auf ihren Treckern sitzen, umweht Bauern wie Engelhard und Homann noch immer ein Gefühl von Unabhängigkeit und Freiheit. Im Eichsfeld gibt es noch echte Farmer und Cowboys, und sie verteidigen ihr kleines Glück.
Ein Städter, bei dem die Milch aus der Tüte kommt, mag das befremdlich finden. Den Dörflern ist das freilich egal. Sie sind stolz auf ihren Lebensstil. Bis in die 70er-Jahre hinein wurde im Eichsfeld noch Virginia-Tabak angebaut, jetzt wächst das Kraut wild an den Flüssen. Das Marlboro-Feeling der Bauern aber ist geblieben. Gefährdet wird es weniger durch den knallharten Preiskampf als vielmehr durch bürokratische Vorschriften – und galoppierenden Unsinn, der auch vom Naturschutz herrührt.
Die Bauern verdienen das Misstrauen nicht
Gut gemeint ist nämlich auch hier nicht immer gut gemacht. An den Eichsfelder Feldwegen wachsen viele Obstbäume; Pflaumen, Mirabellen, Kirschen, Äpfel. Im Sommer und Herbst bedient sich dort, wer will, vor allem für Kinder ein Riesenspaß. Seit Jahrhunderten pflanzen die Bauern Gehölze am Ackerrand, so will es der Brauch. Und wenn ein Landwirt eine neue Zufahrt legen musste, weil die alte zu klein geworden war, wurde auch schon mal ein Stamm gefällt. Danach krähte kein Hahn.
Inzwischen wird das alles penibel durch Gesetze geregelt. Wer einen Baum fällt, muss mehrere junge Bäume nachpflanzen. Das aber hat dazu geführt, dass kaum noch ein Bauer bereit ist, freiwillig zu pflanzen – so wie es früher ganz selbstverständlich war.
Hinter den rigiden Regelungen steckt ein Misstrauen, das die Bauern nicht verdient haben. Denn Landwirte wie Homann und Engelhard sind nicht gegen den Schutz der Natur. Sie sind auch nicht grundsätzlich gegen das "Grüne Band". Sie haben bloß etwas gegen Leute, die ihnen ständig vorschreiben wollen, was sie zu tun und zu lassen haben auf ihren Feldern.
"Naturschutz" klingt in ihren Ohren eben nicht wie Artenvielfalt und ökologische Erholung, sondern wie eine gefährliche bürokratische Chiffre. Wer von Naturschutz redet, der hat immer eine Verbotsliste in der Hinterhand. Wetten?
"Der hat noch nie richtig gearbeitet"
Mehr als 40 Ortschaften und Verbände haben sich inzwischen allein im Eichsfeld zusammengeschlossen, um gegen die "aktuelle Ausgestaltung des Naturschutzgroßprojekts" zu protestieren. Rund 300 Bauern haben vor ein paar Wochen in Duderstadt gegen das "Grüne Band" demonstriert.
Im katholischen Eichsfeld kommt das eher selten vor. Bis 250 Trecker Richtung Duderstadt rollen, um dort ein Hupkonzert zu geben, muss schon einiges passieren. Was die Landwirte besonders empört: Ständig wird über ihre Flächen gesprochen – mit den Eigentümern oder Pächtern persönlich redet aber kaum jemand. Die Bauern fühlen sich übergangen; das geht ihnen an die Ehre.
Deswegen musste der Frust auf der Demo mal raus. Die Bauern trugen Transparente wie "40 Jahre Grenze reicht" oder "Keine neue Grenze nach der Wiedervereinigung". Die Stimmung war gereizt. Manche Demonstranten verglichen das Naturschutzgebiet mit einem Krebsgeschwür, andere sahen sich schon auf dem Weg nach "Nordkorea".
Und natürlich bekam der niedersächsische Umweltminister Stefan Wenzel, ein Grüner, sein Fett weg. Der habe in seinem "Leben noch nie richtig gearbeitet", vergriff sich ein Redner im Ton.
Bauern im Eichsfeld haben immer zu tun
Der Göttinger Wenzel kennt die Landwirtschaft ganz gut, er hat sein Leben einige Jahre sogar als Selbstversorger bestritten. Jetzt lebt er in einem Dorf am Rande des Eichsfelds, seine Frau stammt aus Gieboldehausen. Mit den Bauern will Wenzel keinen Ärger.
Er weiß: Ohne die Landwirte geht auch im Naturschutz nichts voran. Die geplante Entwicklungsfläche "Grünes Band" hat er deshalb vor Kurzem deutlich reduzieren lassen. Beim Gespräch in seinem Büro in Hannover betont er freundlich die "Freiwilligkeit des ganzen Projekts". Er habe "großes Interesse, das Vorhaben ins Ziel zu bringen".
Das "Grüne Band" wird sich wohl durchsetzen – mit Kompromissen. Und Arno Homann jr. macht weiter. Im August wird er 50. Da kann man Bilanz ziehen. Klima? Wetter? Preise? Markt? "Jedes Jahr war anders!", sagt er knapp.
Dann dreht er sich eine Zigarette, springt auf seinen John Deere und rollt mit dem Trecker Richtung Rhumspringe, wo Homanns Weizen wächst. Ob mit oder ohne "Grünem Band": Ein Bauer aus dem Eichsfeld hat immer was zu tun.
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