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Saturday, March 1, 2014

Industrie profitiert von Zigarettenschmuggel



Hinter den Schockbildern: Brüssel verschärft die Tabakrichtlinie – und schließt einen Pakt mit den Zigarettenherstellern, um dauerhaft vom Schmuggel zu profitieren.

Zigarettenmafia. Das klingt wie ein Wort von vorgestern: Anfang der 1990er bis Mitte der 2000er-Jahre war es noch in aller Munde. Da begannen Banden aus Russland, der Ukraine und Litauen im großen Stil, unversteuerte Zigaretten nach Deutschland zu schmuggeln. Es gab Morde im Milieu der meist vietnamesischen Straßenverkäufer am Ende der Kette. Zoll und Berliner Landeskriminalamt gründeten damals als Reaktion eine Spezialeinheit.
Diese „Gemeinsame Ermittlungsgruppe Zigarettenhandel“ (GE Zig) mit Zentrale im Abschnitt 41 in Schöneberg existiert bis heute. Das macht auf der einen Seite Sinn: Schließlich sieht man in Berlin immer noch einige Verkäufer stehen, in der Regel an den östlichen Ringbahnhöfen bis runter zum Bahnhof Neukölln.
Deren Taktik ist Ermittlern altbekannt: Die Männer haben, wenn man sie stellt, maximal drei bis vier Schachteln am Körper. Erst auf Nachfrage eines Käufers besorgen sie oder sogenannte Runner Nachschub aus den Depots hinter Wandverkleidungen, in Gebüschen, getarnten Erdlöchern oder Dachrinnen.
Andererseits: Was kann die GE Zig noch tun? Morde sind kaum mehr zu erwarten, die Reviere sind lange abgesteckt. Seit 20 Jahren schon bekämpfen die Ermittler den permanenten Betrug am Steuerzahler und allen ehrlichen Rauchern, ohne je an die Wurzel des Problems zu stoßen. Die sitzt heute viel tiefer als damals, wie sich zeigt.

Der Großteil des Geldes geht an den Staat

Von den fünf Euro für ein regulär im Laden verkauftes Paket Zigaretten gingen im Jahr 2013 rund drei Viertel oder 3,68 Euro an den Bund. Steuerfrei kostete eine Schachtel also nur 1,32 Euro (siehe Grafik). Je höher die Differenz, desto lohnender der Schmuggel. Den EU-Mitgliedsstaaten gehen dadurch laut Europäischem Amt für Betrugsbekämpfung (Olaf) jedes Jahr rund zehn Milliarden Euro an Steuern verloren. Welchen Anteil daran geschmuggelte Originalzigaretten haben, dazu gibt es nur Schätzungen. Klar ist aber: Werden auch diese – nicht nur gefälschte – illegal in die EU gebracht, profitieren nicht nur Käufer und Schmuggler, sondern auch die Tabakkonzerne selbst.

Die stehen bekanntlich wirtschaftlich unter Druck. Die Zahl der Raucher schwindet, die Einnahmen sind seit Jahren rückläufig. Mit der erst vergangene Woche vom EU-Parlament verabschiedeten Tabakrichtlinie sollen nun auch noch große Schockbilder und größere Warnhinweise auf Zigarettenschachteln eingeführt, Menthol- und Slim-Zigaretten ganz verboten werden. Zig Millionen Euro, so wurde im Dezember bekannt, hatten die Tabakkonzerne in eine aggressive Kampagne investiert, um EU-Abgeordnete gegen die Richtlinie in Stellung zu bringen.
Mit der öffentlichen Debatte um die Schockbilder ging ein Aspekt der Richtlinie bisher weitgehend unter: die geplante Einführung eines Kontrollsystems für den Transport von Tabakprodukten. Während sich das EU-Parlament in den anderen Fragen mehrheitlich hart zeigte, könnte die Zigarettenindustrie bei der Schmuggelkontrolle noch einen Sieg erringen, sollten die Mitgliedsstaaten das Projekt nicht noch kippen. Bisher kontrolliert die Tabakindustrie ihre Transporte weitestgehend selbst, was man im Europaparlament kritisiert. In der Kommission hingegen sitzen seit Jahren verlässliche Unterstützer der Tabakkonzerne.
Dort kann oder will man sich offenbar nicht an das Kartell erinnern, das Mitte der 90er Jahre EU-weit umgerechnet mehr als zehn Milliarden Euro Steuern hinterzogen haben soll. Die Ermittlungen zogen sich über viele Jahre hin. Ergebnis: In Abstimmung mit Tabakunternehmen waren damals jedes Jahr rund 1000 Lkw-Ladungen Originalzigaretten in die EU eingeführt worden. Die Affäre, die unter dem Namen Montenegro-Connection in die Geschichte einging, endete 2004 außergerichtlich: Zehn EU-Staaten und die Tabakindustrie einigten sich auf Zahlungen von insgesamt bis zu 1,5 Milliarden Euro zur Schmuggelbekämpfung. Zudem verpflichteten sich die großen Tabakkonzerne, die eigenen Transporte fortan weitestgehend selbst zu kontrollieren. Wohin die Gelder der Industrie flossen, ist heute schwer nachzuvollziehen. Zehn Prozent wurden laut der Antibetrugsbehörde Olaf für Schulungen von Zollbeamten, die Entwicklung spezieller Computerprogramme und Ähnliches verwendet. 90 Prozent flossen laut dem Abkommen ohne Verwendungsnachweis direkt an die Mitgliedsstaaten.

Markenzigaretten werden eigens für den Schwarzmarkt produziert

Verlässliche Zahlen darüber, welchen Anteil die Konzerne am Schmuggel haben, kann die Antikorruptionsbehörde „derzeit nicht bereitstellen“. Allgemein lässt sich nur festhalten, dass der Schmuggel mit Originalzigaretten zurückgegangen ist. Doch es gibt Grenzfälle: zum Beispiel die Zigarettenmarke „Classic“ von Imperial Tobacco. Anna Gilmore, Professorin für Gesundheitswesen an der britischen Universität Bath nennt „Classic“ eine „extra für den EU-Schwarzmarkt hergestellte“ Marke. Das passiert im Baltikum. Auch aus den Emiraten, nach Asien die zweitgrößte Herkunftsregion unversteuerter Zigaretten, wird noch heute aber keine Zigarettenmarke so häufig in die EU geschmuggelt wie „Marlboro“.
Alle vom Tagesspiegel befragten Konzerne weisen Vorwürfe, sie hätten mit dem Import von Qualitätsware etwas zu tun, zurück. Sie versichern zudem, dass sie entweder bereits funktionierende Kontrollen haben oder dabei seien, diese einzuführen. Experten fordern dennoch ein internationales Kontrollsystem, das die bisher intransparente Produktion und Verteilung von Zigaretten überprüft. Zuständig für die Definition eines neuen Kontrollsystems für den Transport von Tabakprodukten ist die EU-Kommission. Sie will bis Mitte des Jahres technische Vorgaben machen. Vor allem zwei Modelle werden derzeit diskutiert: Zum einen gibt es das von Philip Morris entwickelte industrienahe Überwachungssystem Codentify, das bereits in vielen EU-Staaten eingesetzt wird. Zum anderen gibt es das Sicpatrace genannte System des Schweizer Konzerns SICPA, das auf stärkere staatliche Kontrolle setzt.

Die EU will das Abkommen mit Philip Morris verlängern

Das wirtschaftliche Interesse ist für beide Seiten offensichtlich. Für SICPA geht es nach eigenen Angaben um 3000 neue Arbeitsplätze, für die Tabakmultis stehen die Steuerersparnisse aus dem – laut der Weltgesundheitsorganisation WHO – zumindest geduldeten Schmuggel auf dem Spiel. Gegen das Philip-Morris-System Codentify spricht die neue Antitabakrichtlinie der WHO. Sollten die EU-Staaten diese ratifizieren, würden sie sich verpflichten, „ihre Politik vor wirtschaftlichen und anderen Interessen der Tabakindustrie zu schützen“.

Innerhalb der Kommission herrscht bei dem Thema Uneinigkeit. Während die Abteilung Gesundheit und Verbraucher die vorhandenen Systeme unter die Lupe nehmen will, spricht sich Olaf für Codentify aus – was nur auf den ersten Blick überrascht. Eine Olaf-Sprecherin erinnert daran, dass Codentify Teil der laufenden Abkommen mit der Industrie sei. Zufall oder nicht: Wie der Tagesspiegel erfuhr, will die EU-Kommission noch in diesem Jahr verhandeln, ob das 2004 mit Philip Morris geschlossene Milliarden-Abkommen verlängert wird.
Würde man sich einig, hätten fast alle etwas davon: Die Industrie könnte Produktionen und Tabakeinfuhren weiterhin maßgeblich selbst kontrollieren, die Finanzminister und Ermittlungsbehörden der EU erhielten weiter zumindest etwas Geld – aber nicht der Sicherheitskonzern SICPA aus der Schweiz. Bei diesen Aussichten dürfte auch die Zukunft der Berliner Ermittler der GE Zig mittelfristig gesichert sein. mit kph

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